Wieder/s(i)e/hen

CNs: Alkohol, Zigaretten, Paranoia/ (Social) Anxiety
Setting: Alternative Realität ohne Pandemie

Da ist sie wieder. Mit ihrem Lachen, das mir immer ein paar Stufen zu warm ist, als wäre jemandem bei Bearbeiten eines Fotos der Regler verrutscht. Meistens versucht sie sogar, mich zu umarmen zur Begrüßung. Schade aber auch, dass ich immer genau dann etwas furchtbar Wichtiges und absolut Unaufschiebbares auf meinem Smartphone nachschlagen muss.

Da ist sie wieder. Mit der Art, wie sie meinen Namen sagt, als würden wir uns seit Jahren kennen. Manchmal, wenn die Gruppe mit ihrem dritten Cocktail anstößt, frage ich mich, ob wir uns tatsächlich schon mal gekannt haben und ich sie einfach vergessen habe. Wache ich am nächsten Tag mit Kopfschmerzen auf, driften noch immer Bilder durch meinen Kopf von Kindergartenkindern, die sie mal war oder die vielleicht nie existiert haben.

Da ist sie wieder. Mit ihren intimen Geschichten, die sie mit einer Leichtigkeit erzählt, als würde sie mir sagen, dass gerade die Sonne scheint. (Selbst das würde ich für meinen Teil ja lieber auf dem Smartphone nachschlagen, anstatt den Blick zum Fenster schweifen zu lassen und zu riskieren, dass wir uns versehentlich in die Augen schauen.) Geschichten, die ich nicht mal meinen engsten Freund*innen erzählen würde. Jedenfalls nicht mit dieser Leichtigkeit. Eher wären sie für mich wie ein Klotz, der mir am Bein hängt und dank dem ich rettungslos im Scham versinken würde.

Da ist sie wieder.
Da ist sie wieder.
Da ist sie wieder.

Eigentlich weiß ich nicht mal so genau, warum. Wer von uns hat sie angeschleppt?

Wenn wir um die Häuser ziehen, schließt sie sich unserer Gruppe an wie ein Schatten, der mich frösteln lässt. Doch ich traue mich nicht, das zu sagen. Dass ihre übertriebene Wärme für mich unsere Gruppe sprengt und nur ein schwarzes Loch zurücklässt, in dem ich keine gute Zeit haben kann. Ich traue mich nicht, zu fragen, wer sie ist, vielleicht kennen wir uns ja in Wahrheit. Ich sollte es mal auf meinem Smartphone bei StayFriends nachschlagen, wären meine Finger nicht so verdammt glitschig und klamm vom Panikschweiß.

Da ist sie wieder, und heute frage ich sie. Heute frage ich sie, wer sie ist und was sie sich überhaupt einbildet. Was dieser ganze Scheiß soll. Nur noch ein Bier zum Mut sammeln, nur eins noch.
Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie sich ihre möglichen Vergangenen Ichs – oder sagt man Iche? – durch meinen Kopf drehen wie die Rollen bei so einem Spielautomaten. Aber natürlich bleibt nie ein einziges dreimal stehen. Das Spiel zieht mir die letzten Nerven aus der Tasche und ich kann nicht gewinnen.

Da ist sie wieder, und heute habe ich leider, leider mein Geldbeutel zu Hause vergessen und kann nicht mittrinken. Wenn es mit Mut antrinken nicht klappt, brauche ich stattdessen wenigstens einen klaren Kopf. Natürlich bietet sie mir sofort an, mir was zu leihen. Ganz als hätte ich ihre PayPal-Adresse offensichtlich unter meinen Favoriten abgespeichert. Ich kenne nicht einmal ihren Nachnamen. Die Recherche auf meinem Smartphone hat mehr als ein Instagram-Account mit schwindelerregenden Followerzahl, aber Künstlerinnen-Namen nichts rausgerückt.

Da ist sie wieder, und es sind erst ein paar Wochen, seit sie aufgetaucht ist, das weiß ich, wenn ich nach der Aspirin und dem traditionellen halben Liter Zitronenwasser wieder klar denken kann. Aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Nur eben nur in dem Sinne, dass ich langsam nicht mehr weiß, wie ich das noch aushalten soll. Nicht in dem, dass ich das Gefühl habe, sie wäre eine alte Freundin, der ich alles anvertrauen kann. Im Gegenteil. Jedes Mal, wenn sie auftaucht und sich an uns klettet, wird dieser Teil in meinem Kopf größer, der sich fragt, ob sie uns beschattet oder sowas. Nicht, dass ich wüsste, wozu oder für wen. Ist natürlich Quatsch. Wahrscheinlich.

Da ist sie wieder, und diesmal habe ich nicht mit ihr gerechnet. Ich stehe vorm Club und scrolle auf meinem Smartphone herum. Mir war es heute einfach alles zu viel da drin, zu laut, zu viele Menschen, da machte es kaum noch einen Unterschied, ob nun konkret sie da war oder nicht. Jetzt ist sie hier, zieht eine Zigarette aus der Jackentasche, zögert einen Moment, steckt sie wieder weg. Schaut mich so von der Seite an, mit einem Blick, den ich nicht deuten kann. Ich starre sehr angestrengt auf mein Smartphone, ohne irgendwas zu sehen. Eine Weile schweigen wir beide. Nur die Stimme in meinem Kopf, die sagt, dass sie natürlich merkt, dass ich gar nicht wirklich auf mein Display schaue, und dass sie das furchtbar albern findet, oder gemein, und dass es mich absolut zu interessieren hat, was eine Person von mir und meinem Verhalten hält, die ich nicht mal kenne (hoffentlich), diese Stimme schweigt natürlich nicht, sondern treibt mir tausend unangenehme Gedanken durch den Kopf, die sich ineinander verheddern.

»Du magst mich nicht sonderlich, oder?«, fragt sie schließlich. Zum ersten Mal ist in ihrer Stimme so etwas wie Unsicherheit. Oder vielleicht bilde ich mir das auch ein, wer weiß das schon. Ich bin versucht, gar nicht erst darauf zu antworten. So zu tun, als hätte ich sie nicht gehört über die superspannende Handylektüre hinweg. Aber das ist mir dann doch selbst zu albern. »Ich kenne dich doch überhaupt nicht«, gebe ich knapp zurück. Noch bin ich nüchtern. Noch schwirren mir nicht die Erinnerungen an Vergangenheiten im Kopf herum, die es wahrscheinlich gar nicht gibt.

»Oh«, sagt sie. Und dann scheint sie wieder eine Weile sprachlos. Ich glaube nicht, dass ich sie schonmal so wortkarg erlebt habe. Sie fummelt die Zigarette wieder aus der Jackentasche, doch sie zündet sie nicht an. Sie lässt sie nur nervös von Hand zu Hand und zurück wandern.

»Ich glaube, du würdest dich gut mit meinem Bruder verstehen.« Das ist ihre Schlussfolgerung daraus, dass ich mich ihr nicht nahe fühle – dass ich jemanden mögen soll, den ich noch überhaupt nie getroffen habe?! Wow.
Ich sage nichts. Sie sagt: »Tommy sagt mir auch immer, dass ich mich zu schnell benehme, als würde ich die Leute schon gut kennen. Überhaupt verstehen wir uns in Sachen Menschen nicht sonderlich gut. Mir reicht es, wenn ich mich mit den Leuten einfach gut fühle, das muss nicht lange dauern. Ihm ist es am liebsten, wenn möglichst wenig Menschen um ihn rum sind. Schon spannend, dass so ein introvertierter Mensch und so ein extrovertierter Mensch so eng verwandt sein können. Ansonsten verstehen wir uns prima«, schiebt sie schnell hinterher, während ich mich noch immer frage, was das alles mit mir zu tun haben soll.

Sie räuspert sich. »Jedenfalls. Ich wollte dich fragen, ob es dich stört, wenn ich Johanna nach einem Date frage.« Ich muss grinsen, und es wird doch nicht so kalt wie geplant, als ich frage: »Was hat das denn mit mir zu tun?« »Du bist sowas wie ihre beste Freundin, oder?« Ich will sagen, dass sie das überhaupt nichts angeht, aber wenn ich so drüber nachdenke, könnten sie und Johanna richtig gut zusammen passen. Außerdem hat sie sich extra die Mühe gemacht, zu mir hier raus zu kommen und sich mein Okay zu holen. Ich werde sicher nicht die sein, die sich ein wenig Queer Joy in dieser Welt in den Weg stellt…

Da ist sie wieder, aber nur weil sie Tommy vorbeibringt, bevor Johanna und sie zusammen feiern gehen. Ich bin richtig stolz auf mich, dass ich Johanna gesagt habe, dass ich zwar definitiv ihre beste Freundin bin, mir das mit den Partys aber eigentlich meistens zu laut und zu viel ist.
Die beiden werden mich heute ohnehin gar nicht brauchen. Sie werden nur Herzchenaugen füreinander haben.

»Ich nehme den schwarzen Controller!«, ruft Tommy und stürmt mit einem knappen Winken in Richtung seiner Schwester ins Wohnzimmer. »Ich ziehe dich trotzdem ab!«, rufe ich und renne ihm lachend hinterher. Eine Stunde später schicken Johanna und Anastasia ein gemeinsames Selfie, wie sie knutschend auf der Tanzfläche stehen. Tommy und ich schicken ein Selfie zurück, wie wir Pizza verdrücken und uns bei Mario Kart die Schildkrötenpanzer um die Ohren hauen.

In diesem Moment könnte niemand von uns vieren glücklicher sein.